ADHS bei Mädchen – (k)eine Seltenheit?

Bei ADHS handelt es sich um eine häufige Entwicklungsstörung, bei der vorwiegend die Bereiche Aufmerksamkeit, Motivation und die Exekutivfunktionen (Arbeitsgedächtnis, Selbstkontrolle, geistige Flexibilität) beeinträchtigt sind.

Während die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Jungen in der breiten Bevölkerung weitgehend bekannt ist, fallen Mädchen mit dieser Entwicklungsstörung im Alltag viel weniger auf. Dies liegt unter anderem daran, dass bei Mädchen der sogenannte unaufmerksame Typus, nämlich ADS (ohne der auffälligen Hyperaktivität) dominiert. Vom motorischen her sind diese nicht übermäßig aktiv und introvertiert und dadurch kommt es häufig vor, dass viele Mädchen mit ADS im Alltag nicht wirklich auffallen. Nichsdestotrotz sind auch bei ihnen einige wichtige Funktionen eingeschränkt, nämlich die Impulskontrolle, das Zeitmanagement, die Planung und die Durchführung von Handlungen, das Arbeitstempo, die Aufmerksamkeitsdauer, sowie die Fähigkeit, sich lediglich auf eine Sache fokussieren zu können. Einige Experten vermuten, dass sich bei Mädchen ab der Pubertät die Symptome verschärfen und klarer zutage treten.

Bisher ging die Forschung davon aus, dass mehr als doppelt so viele Jungen wie Mädchen von einer ADHS betroffen sind. Neuere Erkenntnisse hingegen, vor allem aus dem klinischen Alltag, lassen vermuten, dass das Verhältnis nahezu ausgeglichen ist, also dass fast gleich viele Mädchen wie Jungen eine ADHS haben. Interessanterweise nehmen Eltern und Lehrpersonen Hyperaktivität und Impulsivität bei Mädchen und bei Jungen unterschiedlich wahr. Demnach stufen Lehrpersonen beispielsweise das gleiche Verhalten bei Schülern eher als ADHS ein, als bei Schülerinnen. Eltern neigen dazu, die Anzeichen bei ihren Söhnen zu überschätzen und bei ihren Töchtern zu unterschätzen.

Je intelligenter die Mädchen sind, umso besser können sie ihre Defizite und Schwierigkeiten verbergen und fallen dadurch lange Zeit nicht bzw. kaum auf. Auch die höhere soziale Kompetenz bei Mädchen gegenüber Jungen, sowie der vermehrte Einsatz von Mädchen, den Lernstoff in der Schule meistern zu wollen und die Erwartungen die an sie gestellt werden zu erfüllen tragen dazu bei, dass Mädchen mit ADHS weniger auffallen.

Bei einer ADHS treten sehr häufig verschiedene Begleiterkrankungen auf, bei Jungen sind dies vorwiegend aggressives und/oder oppositionelles Verhalten, sowie erhöhtes Risikoverhalten mit Suchtgefahr und erhöhte Unfallgefahr. Bei Mädchen dominieren als Begleiterkrankungen die internalisierenden Störungen, v.a. Ängste, Depressionen, sozialer Rückzug und somatische Beschwerden wie Bauch- und Kopfschmerzen. Neben den Stimmungsschwankungen kommen bei Mädchen nicht selten Esstörungen hinzu.

Quelle: Spektrum der Wissenschaft: Gehirn & Geist. Ausgabe nr.4/2023.

Moritz Frötscher, Zentrum Mensch